17. Die egoistische Gesellschaft
12. Juni 2019

Wohlstand, Freiheit, Sicherheit. Die Bedingungen für ein gelingendes Leben waren nie günstiger. Jetzt richten wir unsere Aufmerksamkeit von äußeren Risiken auf innere Bedürfnisse – und die Vision, uns selbst zu verwirklichen. Wieder mal! Klingt gut, birgt aber Gefahren. Eltern programmieren ihre Kinder, die eigenen Interessen zu verfolgen und sich gegenüber anderen durchzusetzen. „Gehst Du Deinen Weg, wirst Du gewinnen.“ Vom Streit über die Spielknete im Kindergarten bis zur Beschwerde über eine „falsche“ Schulnote. Wir vermitteln ihnen aber kein Gespür, wann sie die Ellbogen besser einziehen sollten. Empathie? Wozu? Wenn alle Menschen für sich das Beste tun, ist jedem gedient. Oder nicht?
Beobachten wir den Straßenverkehr, wissen wir, wie es um unsere Gesellschaft bestellt ist. Ich beschleunige wann ich will, wo ich will, so schnell ich will. „Der Highway gehört mir!“ Der Autofahrer blafft jene an, die seine Macht beleidigen. Er hupt und gestikuliert. Die Ampel ist schon zwei Sekunden grün. Der Radfahrer ist davon längst infiziert. Er fädelt frech ein, biegt waghalsig ab oder quetscht sich durch eine winzige Lücke. Als gefährdete Spezies genießt er schließlich Sonderrechte. Und das Klima rettet er auch noch. Genauso wie der hippe E-Roller-Pilot, der bedenklich dicht am ohnehin restlos überforderten Fußgänger vorbeiflitzt. Ein gereiztes Grundrauschen prägt die Szenerie. Dominanzgehabe. Aggression. Schuldzuweisung. Wer weicht, verliert.
Respekt und Verständnis haben in den vergangenen Jahren merklich abgenommen. Umso mehr sollten wir uns bemühen, eine neuralgische Grenze zu bewahren. Erwartungen an ein harmonisches Miteinander sind eine Notwendigkeit. Soziale Normen schmirgeln sich über das alltägliche Zusammenleben ab. Dann sagt jeder das, was ihm gerade in den Sinn kommt und handelt rein impulsiv. Es stört sich ja keiner daran. Achtsamkeit kann uns helfen, vernünftiger und menschlicher zu reagieren. Nach dem amerikanischen Medizinprofessor Jon Kabat-Zinn ist achtsam, wer seine Aufmerksamkeit – völlig wertfrei – absichtsvoll auf den gegenwärtigen Moment bezieht.
Die Kunst besteht darin, nicht nur von anderen einzufordern, achtsam zu sein, nicht zu beleidigen, ausreden zu lassen, nachzuempfinden, zu helfen, sondern die Augen auch auf sich selbst zu richten. „Geben und nehmen“ lautet der Deal. Für mehr Balance. Mehr Mitgefühl. Mehr Solidarität. „Ich möchte“ und Achtsamkeit gehen zusammen. Man nimmt sich dort zurück, wo man es auch von seinem Gegenüber erwartet. Kant verdichtet diesen „goldenen“ Ausgleich zwischen Vergeltungsdenken und Selbstaufopferung in seinem berühmten Kategorischen Imperativ: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“
Mit den besten Grüßen
Brigitte Fritschle